V2/A4: Erste Rakete im Weltraum - als "Wunderwaffe" gescheitert (2024)

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Walter Dornberger war am späten Nachmittag des 3. Oktober 1942 regelrecht aus dem Häuschen: "Unvergesslich und unvergleichlich ist das Bild", schwärmte der Ingenieur und Wehrmachtsoffizier. Für den Leiter des NS-Raketenprogramms stand "ein Körper von vollendeter Schönheit der Maße" auf dem Prüfstand VII der Heeresversuchsanstalt Peenemünde, vom Sonnenlicht beschienen und zum Start bereit.

Um 15.58 Uhr gelang den Ingenieuren um Wernher von Braun, was heute oft als Start der Raumfahrt bezeichnet wird. Dornberger beschrieb es 1952 in seinem Buch "Der Schuss ins Weltall" überschwänglich: "Der Funkenregen verdichtete sich rasch zur Flamme und wandelte sich im Verlauf einer Sekunde zu einem in herrlicher rotgelber Farbe züngelnden Gasstrahl... Aus dem Wald fuhr der hell leuchtende Körper der Rakete senkrecht in die Höhe."

Die Höhe ist der Punkt: Die Rakete Aggregat 4 (A4), die an diesem Herbsttag vor 75 Jahren erstmals einen kompletten Flug überstand, erreichte eine Höhe von 84,5 Kilometern über dem Erdboden, bevor sie nach 295 Sekunden rund 190 Kilometer östlich von Peenemünde in die Ostsee stürzte. Bei der Jubelfeier am Abend legte Dornberger nach: "Wir haben mit unserer Rakete in den Weltraum gegriffen und zum ersten Mal den Weltraum als Brücke zwischen zwei Punkten auf der Erde benutzt. Wir haben bewiesen, dass der Raketenantrieb für die Raumfahrt brauchbar ist."

Foto: Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte

Dornberger und Braun waren sich der Bedeutung ihres Erfolges sehr bewusst - obwohl damals kaum jemand sagen konnte, wo überhaupt der Weltraum begann. Heute gibt es dafür mehrere definierte Grenzen; viele Experten setzen sie bei 100 Kilometern über dem Meeresspiegel an. Demnach erreichte die A4 am 3. Oktober 1942 sozusagen den Vorgarten des Weltraums.

Der Start in Peenemünde legte die Grundlage für die Raumfahrt bis heute. Mitte 1944 stieg eine A4 bis auf 174 Kilometer, nach Kriegsende dienten erbeutete A4 den USA und der UdSSR als Basis ihrer Raketenprogramme. Die Saturn V, mit der die ersten Menschen zum Mond flogen, war eine Art Urenkelin der A4 - Atomraketen wie die sowjetische SS-20 oder die amerikanische Titan allerdings ebenso.

Vehikel für den Terror

Die beinahe kindliche Freude der Forscher war kein Ergebnis enthusiastischer Garagenschrauber, sondern ein Megaprojekt. Das Raketenprogramm der Nazis hatte im Zweiten Weltkrieg nur ein Pendant: das Manhattan-Projekt der USA, den Bau der Atombombe. Die Gier der Nazis nach einer kriegsentscheidenden Superwaffe eröffnete den Forschern ungeahnte Möglichkeiten. Die Entwicklung der Aggregat 4, der späteren V2, war ein "Wunder mit Kalkül". Das belegen die Autoren Philipp Aumann, Hans Knopp und Thomas Köhler in ihrem gleichnamigen Buch, das zu einer Ausstellung des Historisch-Technischen Museums Peenemünde entstand.

544 Unternehmen und 47 Forschungseinrichtungen waren am A4-Projekt beteiligt. Das "Dritte Reich" steckte immense Summen in die Forschung, erst in der Heeresversuchsanstalt Kummersdorf südlich von Berlin, dann in Peenemünde. Die Ingenieure sollten beste Voraussetzungen bekommen, um dem Terror aus der Luft ein Vehikel zu verschaffen.

Fotostrecke

Schießplatz Kummersdorf: Das Großlabor des Krieges

Foto: Michael Stürzer

Zehntausende von Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen mussten die Heeresversuchsanstalt errichten und zum Beispiel Straßen, Schutzwälle, ein Stromkraftwerk, Produktionsmaschinen und Raketenteile bauen. Allein beim Bau der Produktionsstätten starben mindestens 12.000 Menschen. Nachdem die britische Luftwaffe Peenemünde Mitte August 1943 bombardierte, trieben die Nazis erbarmungslos die Schaffung unterirdischer Produktionsanlagen voran, vor allem im Kohnstein bei Nordhausen in Thüringen. Die Arbeiter holten sie sich aus dem eigens dafür errichteten KZ Mittelbau-Dora. Unter den unmenschlichen Arbeitsbedingungen starben mindestens 20.000 Häftlinge an Hunger, Entkräftung oder Krankheiten.

Skrupel kannte die Nationalsozialisten auch bei den Raketenplänen nicht. Den Strategen im Deutschen Reich war schon vor Hitlers Machtübernahme klar, dass sie gegen ihre potenziellen Gegner kaum eine Chance hatten - wenn sie nicht technologisch weit überlegen wären. Raketen schienen eine Möglichkeit, zumal solche Waffen zur Ideologie der Nazis passten: Sie konnten jeden Ort erreichen, waren kaum abzuwehren und verbreiteten Angst und Schrecken. Der Gegner sollte durch Einschüchterung angesichts der "Überlegenheit" des Reiches zur Aufgabe bewegt werden. Die A4, von Propagandachef Joseph Goebbels Vergeltungswaffe 2 (V2) getauft, sollte demnach lediglich ein Zwischenschritt sein auf dem Weg zur nie gebauten A10, der Amerikarakete.

Wernher von Braun und seine Mitstreiter mussten sich jedoch mit Sparforderungen auseinandersetzen und unter diesem Druck Ergebnisse liefern. Das gelang erst mit dem erfolgreichen A4-Flug am 3. Oktober 1942, auch wenn die Raketenstarts danach erst einmal monatelang fehlschlugen.

Das Kartoffelproblem

Um die Nazi-Größen bei Laune zu halten, schwieg man darüber besser. Die Vorstellungen Hitlers zum Einsatz der V2-Rakete waren wahnwitzig überzogen - und das wussten die Führungsetagen in Peenemünde und andernorts sehr genau. Hitler wollte 50.000 oder gar 100.000 Raketen im Jahr verschießen, wohl auch, weil die V2 nicht sonderlich zielgenau war. Doch schon 1941 kam Walter Thiel, Leiter der Triebwerksentwicklung, zu der Einschätzung, dass solche Produktionszahlen "allein auf Grund der benötigten Treibstoffmengen …fraglich" seien.

Da die Rakete unter anderem Alkohol als Treibstoff nutzte, setzte die Kartoffelernte den Militärs quasi landwirtschaftliche Grenzen. Für einen Start waren zunächst umgerechnet 40 Tonnen Kartoffeln nötig. Eine Ausweitung hätte die Versorgung der Bevölkerung bedroht - eine Hungersnot durch die erhoffte "Wunderwaffe" wäre unter Umständen die Folge gewesen.

Mehr als 5000 Raketen pro Jahr konnte Peenemünde demnach nicht liefern. Buchautor Aumann kommt zu dem Schluss, dass dem Deutschen Reich für Massenproduktion und Einsatz der Waffen schlicht die Ressourcen fehlten. Hitler sagte das vorsichtshalber keiner.

Die Nazi-Sehnsucht nach den Superwaffen ohne Rücksicht auf Realitäten kostete Zehntausende das Leben. Bis nach Auschwitz zeigten die Raketenpläne Wirkung, denn von dort kam letztlich ein Teil des Treibstoffs - Methanol aus einem Buna-Werk der IG Farben.

Chaos als Glücksfall

Der vermeintlich nahende Einsatz von Wunderwaffen war in den letzten Kriegsjahren elementarer Teil der Propaganda. Daher waren Hitlers Helfer nicht wählerisch: Die Militärs nahmen fast jede Neuentwicklung, die sie kriegen konnten. "Der finale Plan, möglichst viele neuartige Waffensysteme einsatzfähig zu machen, verursachte letztendlich nur Chaos", urteilt Autor Thomas Köhler.

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Die Waffen waren so neu und kompliziert, dass es keine Bedienungsmannschaften gab oder sie gar nicht unter Frontbedingungen einsetzbar waren. Bei der A4 versuchte man es später mit einer bilderbuchhaften A4-Fibel.

Ein Scheitern mit Ansage. Schon im August 1944 mahnten Mitarbeiter der mit Peenemünde verbundenen Erprobungsstelle Rechlin, dass die Orientierung auf "Forderungen der Truppe" und die Erfüllung jedes kleinen Sonderwunsches zu einer "irrsinnigen Unterteilung" führten.

Einfacher ausgedrückt: Zu viele Ingenieure und Soldaten verderben die Wunderwaffe. Aus heutiger Sicht ist dieses Chaos eine glückliche Fügung. Einfluss auf den Kriegsverlauf hatte die Waffe nicht. Anders als das Manhattan-Projekt der USA, das mit den beiden Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki den Zweiten Weltkrieg auch im pazifischen Raum quasi mit sofortiger Wirkung beendete.

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